Samstag, 20. Februar 2016

Orientierung zum Sufismus

Eine kompakte und zugleich klare Einführung in den Sufismus  bietet das von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) im Jahre 1990 herausgegebene Buch über den Islam, das sich inzwischen zu einem Longseller entwickelt hat:

Was jeder vom Islam wissen muss.
Gütersloher Verlagshaus 2011, 8. vollständig überarbeitete Neuauflage, 368 S.

Rezension des gesamten Buches bis 8. Aufl. 2011: hier

Bereits in der 5. verbesserten Auflage 1996 zeigte der Abschnitt über den Sufismus eine orientierende Klarheit, die diesen Text fast zu einem  umfassenden Lexikonartikel macht (S. 81-87). 
Von hier stammen die folgenden Zitate.

Weiteres zum Sufismus: hier

1.  Der Weg der Liebe zu Gott

Etwa 150 Jahre nach dem Tod Mohammeds erregte eine schlicht gekleidete Frau in Basra, einer Hafenstadt des Irak, Aufsehen. Sie lief mit einer brennenden Fackel in der einen und einem Eimer voll Wasser in der anderen Hand durch die Gassen der Stadt: »Ich will Feuer ans Paradies legen und Wasser in die Hölle gießen, damit diese beiden Schleier verschwinden und es deutlich wird, wer Gott aus Liebe und nicht aus Höllenfurcht oder Hoffnung aufs Paradies anbetet.«(1)
Rabi'a al-Adawiya (gest. 801) wurde als »zweite Maria«, als »Heilige« (waliya) angesehen. Sie gehörte zu den Sufis, die sich in Wolle (suf) kleiden und nach Reinheit (safa ) vor Gott streben.
Vorher hatte nicht Liebe, sondern Furcht vor Gott und dem letzten Gericht Asketen wie Hasan al-Basri (gest. 728) und seine Schüler bestimmt. Sie protestierten – wie die christlichen Wüstenmönche – gegen eine auf Luxus und Äußerlichkeiten ausgerichtete Gesellschaft und riefen die Menschen zur Umkehr zu Gott. Durch Rabi'a, die ehemalige Sklavin, erhielt diese Bewegung eine tiefere Dimension: Wer wahrhaft glaubt, liebt Gott. Nur wer Gott liebt, kann seine Nähe erfahren; denn der Liebende zielt in allem, was er tut und denkt, auf den Geliebten - auf Gott, um mit ihm eins zu werden wie ein Wassertropfen im Meer.
Der Sufismus ist die islamische Form der Mystik, der es um die Verinnerlichung des Glaubens geht. Es versteht sich als unmittelbare »Botschaft des Herzens«. Der Mystiker sieht sein ganzes Leben als Weg (tariqa) zur Einheit mit Gott.

2.  Der Weg- im Koran und bei Mohammed
Die Mystiker finden ihren Weg schon im Koran vorgegeben, etwa in der Aufforderung, dass man sich von denen abwenden soll, die nicht an Gott und seine Weisung denken (Sure 53,29). Für die Sufis sind Worte wie »Gedenkt unablässig Gottes« (Sure 62,10) und »Gott liebt, die das Gute tun« (al-muhsinun - vgl. Sure 5,93) zu Richtworten für den Weg geworden, an dessen Ende das Erleben der Wahrheit Gottes steht. Wer diesen Weg geht, erhält durch Gott Zeichen, die nur die Gläubigen verstehen (Sure 51,20) ... Der Sufi erkennt in Mohammed den durch keine menschliche Lehre irregeleiteten, von Gott her bestimmten »vollkommenen Menschen«, einen »Freund Gottes«, der auf dem rechten Pfad zu Gott sei. Darum legt jeder Ordensgründer und Führer unter den Sufi Wert darauf, dass er mit seinem je besonderen Weg in der Tradition Mohammeds steht.
3.  Märtyrer und Lehrer
Die Sufis versuchten, den tieferen, verborgenen Sinn der Worte des Koran zu ergründen und die äußerlich erscheinenden Lebensregeln zu verinnerlichen. Damit kamen sie der Sehnsucht vieler entgegen. So gelangten manche zu großem Ansehen, andere dagegen hatten unter Hass und Feindschaft zu leiden.

Es folgen Hinweise zu  Husain ibn Mansur al-Halladsch (gest. 922) und
Abu Hamid Muhammad al-Ghazzali [Ghazali] (1058-1111)

4. Die Ordensgemeinschaften
Mit der Gründung des Qadiriyya-Ordens im Jahr 1135 begann für die mystische Bewegung eine neue Phase. Immer mehr Schülergruppen schlossen sich um geachtete Sufi-Meister zu Bruderschaften und festen Orden zusammen. »Klöster« (tekke und zawiyya) sind im Islam geistliche und geistige Zentren, in denen neu Hinzukommende durch oft monatelange Schulungen geführt werden, aufgenommene Mitglieder Zuflucht finden und immer wieder zu Gemeinschaftstagen zusammen­kommen. Asketisches Klosterleben und Zölibat sind dem Islam fremd; die Mitglieder der Orden sollen sich vielmehr im Alltagsleben als Vorbilder für alle bewähren. Heute sind diese mystischen Gemeinschaften aus dem Leben der islamischen Länder nicht mehr fortzudenken. Die Hauptorden haben Niederlassungen von Indonesien bis Marokko, andere sind regional begrenzt.
Im Leben der Orden sind neben den Ordensgründern auch ihre Nachfolger, Scheich oder Pir genannt, und deren Beauftragte (Kalifen) von größter Wichtigkeit. Nicht nur die Anfänger sind ihnen gegenüber »Schüler« (murid), sondern alle Mitglieder. Im unbedingten Gehorsam gibt der Schüler sein eigenes Sein nacheinander in das des Scheichs, dann des Ordensgründers, dann Mohammeds hinein auf, um sich schließlich in Gott »zu verlieren« (fana). Ein rechter geistlicher Meister bindet seine Nachfolger jedoch nicht an sich selbst. Er ist kein Mittler zwischen seinem Schüler und Gott, sondern nur Mitwanderer auf dem gemeinsamen Weg - wenn auch um einige Schritte voraus. Der Meister will seine Schüler von der Liebe zur Welt befreien und aus aller Arroganz lösen. Alle Scheinheiligkeit und alle Geltungssucht sollen ebenso überwunden werden wie Neid und Zorn, Sinnlichkeit und Gier nach materiellen Dingen und weltlicher Anerkennung. Nur so kann in den Herzen die Sehnsucht wachsen, ganz in Gott aufzugehen. Dazu müssen die in die Welt hinein verästelten Wurzeln der eigenen Seele (nafs al-amara[8] im Kampf gegen sich selbst ausgerissen werden. Dies ist der Dschihad akbar, der »größere Krieg« (Anstrengung).

5. Das ständige Gedenken an Gott (dhikr)
Die Kraftquelle auf dem mystischen Weg ist das ständige Gedenken an Gott.
a) - Jeder Muslim übt es im rituellen Gebet. Aber der Mystiker geht über die reine Pflichterfüllung hinaus (Sure 29,45). Dhikr soll sein ganzes Leben umfassen. Im Gedenken und Zelebrieren des Namens Gottes (Sure 76,25; 73,8) stimmt der Liebende in den für Menschen unhör­baren Lobgesang und das Gottes-Gedenken der gesamten irdischen und himmlischen Schöpfung mit ein. Dies geschieht bereits dann, wenn der Beter nach dem Pflichtgebet mit Hilfe der Misbaha, des »Rosenkranzes« (türkisch: tesbih), die Kurzsätze des Gotteslobes der Zahl der Perlen entsprechend 33 Mal rezitiert: »subhanahu llah - Gepriesen sei Gott«, »al-hamdu li-llah - Lob sei Gott«, »Allahu akbar - Gott ist grösser«; oder wenn er sich die 99 Namen Gottes vergegenwärtigt. Wird in dieses Denken an Gott darüber hinaus das Bekenntnis eingeschlossen: »la ilaha illa llah – es gibt keine Gottheit ausser Gott«, dann steht dies unter der Verheissung: Wenn sieben Himmel und ihre Bewohner und sieben Erden in eine Waagschale gelegt werden und dieser Satz in die andere, wiegen im Gericht diese Worte noch schwerer.
b) - Viele Muslime führen das Dhikr als »stilles Dhikr« (dikr khafi) durch. Unbemerkt von ihrer Umgebung konzentrieren sie sich mitten im Alltag auf das Gott-Gedenken, damit sie in ihrem gesamten Tun auf Gott ausgerichtet handeln. Dies sei das wesentliche Dhikr, sagen sie.
c) - Darüber hinaus kennen die Sufi-Gemeinschaften regelmäßig wiederkehrende Versammlungen eines gemeinsamen Dhikr, oft im Anschluss an eines der Pflichtgebete. Trotz der verschiedenen Traditionen und Techniken gibt es dabei wiederkehrende Hauptmomente:
--- Ilahi-Gesänge, Preislieder auf Gott und den Propheten Mohammed als Überbringer des göttlichen Lichts, aber auch mit Nennung aller Propheten, der Engel, der Heiligen und der Lehrer; Koran-Rezitationen, meist von Kernstellen wie dem Licht- oder Thronvers (Sure 24,35-40 und 2,255);
--- unzählige Wiederholungen eines der Namen Gottes oder auch des ersten Satzes des Glaubensbekenntnisses. Der Scheich bestimmt die zu zitierenden Namen ebenso wie das Tempo und die Rhythmik des Sprechens und Atmens. Diese sich ständig steigernde Atemweise führt schliesslich zum Erlebnis der Hingabe, in der alles Bewusstsein ausgeschaltet wird. Dabei wird etwa die erste Silbe des Gottesnamens Allah beim Ein­atmen, die zweite beim langgezogenen Ausatmen rezitiert ...
d) - Ob ein Dhikr sitzend, stehend oder gar tanzend durchgeführt wird, hängt von der Überlieferung des jeweiligen Ordens ab. Dabei wird jeder Bewegung ein tieferer Sinn gegeben. Die Derwische des Sufi-Meisters Mevlana Dschellaleddin Rumi aus Konya (gest. 1272) etwa werfen ihre schwarzen Umhänge als Zeichen der Last und Finsternis der Welt fort, um dann ihren Reigentanz in weißen Gewändern als Symbol der himmlischen Welt durchzuführen. Dabei drehen sie sich um sich selbst so wie Schmetterlinge um die Sonne oder in der Gruppe um ein freibleibendes Zentrum so wie Himmel und Erde um den Schöpfer.


Anmerkungen
1.   Zitiert nach: A. Schimmel, Mystische Dimensionen des Islam.
Die Ge­schichte des Sufismus, Köln 1985, S. 66.
8.   Der Begriff nafs al-amara kann nur umschrieben werden: 
Er meint: die den Begierden und dem Bösen zugeneigte Seele des Menschen,
die sich von Gott lossagt und sich selbst zur Richtschnur macht. (Siehe Sure 12,53).


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